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ENTGRENZUNG

Variabilität und vagabundierende Grenzen

Goel stellt fest, dass „das WorldWideWeb allein schon durch seinen Namen [suggeriert], die ganze Welt mit einander zu verbinden, räumliche Distanzen aufzuheben und so einen neuen entterritorialisierten Raum zu schaffen. In der Gegenüberstellung von real und virtuell wird unterstellt, dass nur im physikalischen Raum Realität vorherrscht, während das Internet eine imaginierte, virtuelle Welt hervorruft.“ 012005
Urmila Goel: Was bedeutet eigentlich virtueller Raum?
Dass das nicht der Wahrheit entspricht, wird schnell klar. Websites sind mehr als ein digitales Kommunikationsmittel und schaffen ihre eigenen Realitäten. Wir bilden eine neue Identität im Netz durch Inszenierung und Nutzverhalten. Es besteht die Möglichkeit, eine neue Persönlichkeit im Netz zu schaffen, doch auch umgekehrt werden Websites auch Teil materieller Realität.

Wir betrachten digitale Karten der gebauten Städte; hören Songs, bevor wir ein Konzert besuchen; informieren uns über Personen, bevor wir sie treffen; recherchieren Produkte, bevor wir diese kaufen. Der Prozess ist eine ständige Überschneidungen der Welten, ein wechselseitiges Aufeinanderwirken. Egal ob unser Smartphone nur eingeschaltet ist, wir jenes oder unsere Kreditkarte für den Zahlvorgang an der Kasse benutzen — wir, die personenbezogenen Daten unserer Identität, sind Teil des Datennetzes. Schroer beschreibt, dass die Stadt selbst längst ein Datennetz geworden ist. Unsere Bewegung in der Stadt wird mit Kameras und Bewegungsmeldern festgehalten. Diese Daten formen unsere Infrastruktur, die Bewegung jedes einzelnen wirkt sich auf Ampelschaltungen und Straßenbau aus. 022001
Markus Schroer: Urbanität im Netz

„So haben wir es letztendlich mit einer permanenten Bewegung von Entgrenzung und Begrenzung, von Grenzaufbau und Grenzabbau, von Enträumlichung und Verräumlichung zu tun. Entscheidend und typisch für unsere »Epoche des Raums« (Foucault 1990: 34) ist dabei gerade, dass sich fest und flüssig, Land und Meer, real und virtuell, Internet und Intranet nicht mehr länger als einander ablösende Zustände denken lassen, sondern gleichzeitig und nebeneinander existieren. Und es existieren eben nicht nur reale und virtuelle Räume nebeneinander, sonder auch innerhalb dieser Räume existieren jeweils zahlreiche andere nebeneinander, die die Grenze von virtuell und real in vielfältiger Weise überlagern. Wir haben es mit hybriden Räumen zu tun, mit solchen, die sich immer weniger eindeutig auseinander halten lassen, weil sie zunehmend ineinander übergehen, die zwar über Grenzen verfügen, welche sich aber permanent auflösen, um an anderer Stelle neu erreichtet zu werden — vagabundierende Grenzen, die nicht mehr an einem Ort unverrückbar vorzufinden sind.“

Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen: Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums (2005)

Auch Löw beschreibt, dass durch den Umgang mit neuen Medien Raum vernetzter, immaterieller erlebt wird. Diese Erfahrung ergänzt so die Vorstellung des einheitlichen, umgebenden Raums. 042000
Martina Löw: Raumsoziologie

In dem vernetzten Raum lebt man nicht „nur“: Der Raum entsteht, dehnt sich aus und formt sich aus Verknüpfungen und Handeln der Aktiven. Zum einen haben wir die Möglichkeit, durch Erstellen von Blogs und Websites oder das Eröffnen eines Forums neue Architektur zu bauen, zum anderen können wir Websiten durchschreiten, und diese als Räume auf unseren Bildschirm hervorbringen.

„Ein eben selbst hervorgerufener Raum ist nur durch die körperliche Aktivität des Klicken mit der »Maus« mit dem beliebigen anderen Raum verbunden [...]“

Martina Löw: Raumsoziologie (2000)

Besonders die Entwicklung des Internets, so schreibt Schroer, „trägt mit dazu bei, Raum nicht mehr länger als gegebene Konstante zu verstehen, als Behälter oder Rahmen, in dem sich Soziales abspielt, sondern als durch soziale Praktiken erst Erzeugtes aufzufassen und damit von Räumen auszugehen, die es nicht immer schon gibt, sondern die erst durch Handlungen und Kommunikation hervorgebracht werden.“ 062005
Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen: Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums

Es ist notwendig zu fragen, wie Räume einer demokratischen, nach Gleichberechtigung strebenden Gesellschaft in der gebauten wie immateriellen Landschaft aussehen können. Gemeinschaft entsteht durch Interaktion mit der Umgebung, den Menschen. Sowie die gebaute soll auch die immaterielle Urbanität nicht als Ort des Kommerzes gesehen werden, sondern als Raum für Individuen, ihre Informationen und Begegnungen. Wir brauchen Websites, die auf unabhängige Strukturen aufbauen, mehr dezentralisiert als zentralisiert funktionieren, zur Mitgestaltung wie einer „nachbarschaftlichen“ Begegnung auf demokratischen Plätzen einladen. Denn durch die Nutzung vorhandener Plattformen verstärken wir im Netz die Macht derer, die auch im materiellen Raum Eigentümer großer Siedelplätze sind. 072001
Markus Schroer: Urbanität im Netz

Zum anderen muss eine Entmystifizierung des Netzes stattfinden. Der Begriff des Netzes als um uns schwebende Wolke oder Wand aus flackernden Nullen und Einsen muss aufgelöst werden, damit man einen persönlichen Zugang bekommt und vermehrt Räume entstehen, auf die sich jeder User einlassen kann und darf, ohne einer ununterbrochenen Manipulation unterworfen zu sein. Es sollte realisiert werden, dass ein Mitwirken und Sich-Einbringen möglich und notwendig ist, dass wir (agierende) Individuen sind.

Websites können im Kollektiv erbaut sein, wie das Gebäude einer Sporthalle oder sie können als einzelnes Projekt, wie eine Berghütte mit seltenen Gästen, aber intensiven Austausch, bestehen. Das Web bietet uns Siedelplätze an, was eine Chance und einen Unterschied zum materiellen Raum darstellt. Die Nutzung und die Art des Auftritts sind veränderlich, Auf- und Abbau sowie Renovierung eines kleinen immateriellen Baus sind oft weniger komplex als der des materiellen.

„Physical architecture is designed and built to create meaningful places in which society can inhabit and interact (Campbell, "Virtual Reality"). If architecture did not perform this function, it would exist as sculpture in its own universe (Novak, "Liquid Architectures" 243). Architectural place is created in the context of the geographical limitations of the physical site, approached from other spaces and places. A virtual world, without a geographical context and a traditional means of approaching a site, exists in the context of abstract, infinite space. An attempt must still be made, however, to create meaningful places in this limitless space.“

Dace A. Campbell: Design in Virtual Environments Using Architectural Metaphor (1996)

01 Urmila Goel (04.2019):

Was bedeutet eigentlich virtueller Raum?

02 Markus Schroer (04.2019):

Urbanität im Netz

03 Markus Schroer:

Räume, Orte, Grenzen: Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums (2005), S.274

04 Martina Löw:

Raumsoziologie (2000), S.112

05 Martina Löw:

Raumsoziologie (2000), S.113

06 Markus Schroer:

Räume, Orte, Grenzen: Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums (2005), S.275

07 Markus Schroer (04.2019):

Urbanität im Netz

08 Dace A. Campbell:

Design in Virtual Environments Using Architectural Metaphor (1996), S. 12

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