OBERFLAECHE
Präsentieren des Verborgenen
Auf dem Wochenmarkt kann man an einem der Gemüsestände regionale und saisonale Früchte kaufen. Bäuerinnen
und Bauern aus der Umgebung verkaufen frische Produkte aus eigenem Anbau. Die Stände werden früh vor Ankunft
der ersten Konsument*innen aufgebaut. Es gibt verschiedene Modelle, ausklappbare Wägen oder Zelte.
Präsentiert werden die Waren auf verschiedenen Höhen.
Im Supermarkt ist ein seltener Wechsel des Obst- und Gemüse-Angebots zu beobachten, die Regale bleiben
unverändert. Auch wenn die Abteilung an den Wochenmarkt angelegt ist, sind deutliche Unterschiede erkennbar.
Das Licht ist perfekt auf die Früchte in den schräg positionierten Kisten gerichtet. Im Hintergrund der
Waren sind zum Teil Spiegel an der Wand moniert oder Fotografien gehangen. Es wird unterschieden zwischen regionalen
und internationalen Früchten, Obst und Gemüse werden zudem nach Qualitätssiegeln getrennt und somit Wege der
BesucherInnen geplant.
Ähnliche Strukturen können wir im Netz wiederfinden und Abläufe beobachten, die wir aus der materiellen
Architektur kennen. Es gibt kleinere Auftritte, die ein überschaubares Angebot an Produkten anbieten und
durch besondere Details (seien sie visuell, sprachlich oder interaktiv) interessant wirken. Eigenheiten
geben diesen Seiten einen Charakter, schaffen eine spezielle Umgebung. Auf größeren immateriellen Märkten
kann man sich auf gefüllte „Regale“, personalisierte Angebote und eine perfekte Logistik verlassen. Die
sympathischen Macken fehlen vielleicht, Wege sind berechnet, sodass man schwer auf Neues stößt.
Die Darstellung findet in der Präsentation des Services, auf der Oberfläche statt. Oberfläche gibt uns eine
Impression. Der User wird von einer Atmosphäre umgeben, die beeinflusst, wie man sich in ihr verhält.
Eichinger beschreibt, dass alles was wir sehen, Oberfläche ist. „Da sie aber allgegenwärtig ist, benehmen
wir uns in unserem Verhältnis zu ihr wie ein altes Ehepaar. Wir suchen das Interessante, das Erstrebenswert
und das Wahre meist im Unbekannten, Verborgenen und schwer Erreichbaren. Dabei müssten wir einfach wieder
genauer hinsehen uns miteinander reden. Das Zitat von Oscar Wilde (The true mystery of the world is the
visible, not the invisible.) [...], erinnert uns daran, dass die Beschäftigung mit den ach so Gewohnten und
vermeintlich Oberflächlichen in Wirklichkeit das Ganze offenbart. Das Geheimnis der Welt liegt unverhüllt
vor uns. Wie Analphabeten müssen wir lernen, seine Informationen zu entziffern.“ 012011
Gregor Eichinger,
Eberhard Tröger: Touch Me! Das Geheimnis der Oberfläche
Manchmal wird ganz deutlich, was die Oberfläche uns vermitteln soll. Ein Stuhl mit Samt-Bezug erscheint uns
weicher als die Steinbank. Die Oberfläche zeigt uns charakteristische Eigenschaften und bietet mit der
Visualität und Haptik einen Service, also Handlungsmöglichkeiten wie das Sitzen an. Hält die Bank mein Gewicht?
Wird das Sitzen auf dem Stuhl bequem sein?
„[…] the surface refers back to a thing and expresses the properties of that thing, while the interface
refers back to relation between things and expresses an action. […] A surface presents a form, which an
interface performs a shaping.“
Branden Hookway: Interface (2014)
Alles hat eine Oberfläche, die eine Hülle aufzieht und eine Referenz zur Substanz des Objektes
darstellt. Sie bezieht sich immer auf das Umfasste. Wenn die Oberfläche das ist, womit unser erster
Kontakt entsteht, ist sie in ihrer Bedeutung nicht oberflächlich, sondern zentral für die Wahrnehmung des
Verborgenen. Auch wenn die Oberfläche als „Hülle“ nur ein Aspekt im Aufbau und der Bedeutung des Objekts
darstellt, können wir durch sie das Objekt als Objekt betrachten, Merkmale erahnen, Handlungsmöglichkeiten,
Optionen der Interaktion und Funktionen erkennen, Beziehungen und Verbindungen begreifen.
„Die Oberfläche birgt die Wahrheit und die ganze Tiefe, die uns zugänglich ist, in sich. Was an versteckten
Anteilen dahinter liegt, ist sehr wichtig, aber erst die Grösse und das Raffinement der sichtbaren
Oberfläche machen das komplexe Ganze sinnlich erfahrbar.“
Gregor Eichinger, Eberhard Tröger: Touch Me! Das Geheimnis der Oberfläche (2011)
Zum einen trifft Eichingers Beobachtung auf ein komplexes Gebäude zu, dessen schwere Ebenen durch
zahlreiche Säulen getragen werden. Zum anderen liegt die Assoziation an das Frontend nahe, was wir als
immaterielle Architektur wahrnehmen, sehen, lesen können. Inhalte, die durch das „Raffinement“ des Codes
sichtbar und und für den User erfahrbar gemacht werden.
Die Oberfläche entsteht aus der Substanz und verweist auch auf diese. Ohne das Verborgene kann die
Oberfläche nicht existieren, aber sie stellt einen wichtigen Teil dessen dar, repräsentiert Eigenschaften
und Funktion.
„I’ve come to think of software applications as a form of digital architecture: some are places of
concentration, others of collaboration, others clearly just for fun. Software’s emotional dimension is
crucial: how it feels dictates how it’s used. [...] Microsoft Word is the quiet room at the university
library; personal Gmail is a dirty kitchen, yesterday’s plates stacked next to the sink; Twitter is an
overcrowded bar. Throughout the day, I’ll move from room to room, alternating between solitude and
socializing, work and play.“
Anna Wiener