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Ablesbarkeit und Irritation
Kevin Lynch studiert in „Das Bild der Stadt“ die Balance zwischen Irren und Finden, undurchsichtigem Chaos und einer geordneten und sehr strukturierten Umgebung. Materielle wie immaterielle Architektur kann mit dem Gefühl von Kontrolle und Orientierungslosigkeit spielen – ein Bild einer perfekten Stadt, eines perfekten Gebäudes oder einer Website sowie Gestaltungsrichtlinien existieren nicht.
„Wenn auch Klarheit bzw. Ablesbarkeit keineswegs die einzige wichtige Eigenschaft einer schönen Stadt ist, so ist sie doch von besonderer Bedeutung, wenn man die Umgebung im Zusammenhang mit dem Maßstab der Stadt in Bezug auf Dimension, Zeit und Verzweigtheit betrachtet. Um das zu verstehen, müssen wir die Stadt nicht einfach als ein Ding an sich betrachten, sondern so, wie sie von ihren Einwohnern wahrgenommen wird. Gliederung und Kenntlichmachung der Umgebung sind lebenswichtige Fähigkeiten aller sich fortbewegenden Tiere. Viele Hilfsmittel werden benutzt: solche visueller Art, wie Farbe, Form, Wahrnehmung von Bewegung, Lichtpolarisation, und andere Mittel, wie Geruch, Geräusche, Berührung, Kinästhesie, das Gefühl für Schwerkraft und evtl. für elektrische oder magnetische Felder. [...] Sich ganz und gar zu verirren – das ist wahrscheinlich ein sehr seltenes Erlebnis für die meisten Menschen in einer modernen Stadt. Unterstützung wird uns hier geboten durch die Anwesenheit anderer Menschen und spezieller Wegweiser: Karten, Straßennamen, Markierungen, Bus-Schilder. Aber wenn es uns einmal passiert, daß wir uns verirren, dann wird uns durch das Gefühl der Unruhe und des Schreckens klar, wie sehr dieses Mißgeschick unser Gleichgewicht und unser Wohlbefinden beeinflußt. [...] Es ist klar, daß ein deutliches Bild einen befähigt, sich leicht und schnell umherzubewegen [...] Aber eine geordnete Umgebung kann mehr als nur dies bewirken; sie kann eine breite Basis für Beziehungen bilden, sie kann Aktivität oder Anschauungen oder Erkenntnisse fördern.“
Kevin Lynch: Das Bild der Stadt (1993)
Im Kontrast dazu formuliert Lynch, dass „eine Umgebung, die Geheimnisse, Irrwege und Überraschungen
bereithält, ein gewisses Etwas hat. [...] Aber reizvoll wirkt das alles nur unter zwei Bedingungen: Erstens
darf man nicht Gefahr laufen, daß man ganz und gar den Weg und die Richtung verliert und sich nicht mehr
auskennt; die Überraschung muß vielmehr in das Gesamtgerüst eingebaut sein, die Gebiete der Verworrenheit
müssen im übersehbaren Ganzen klein bleiben. Und zweitens muß das Labyrinth bzw. das Geheimnisvolle an sich
eine Form besitzen, die erforscht und mit der Zeit begriffen werden kann. [...] Der Beobachter selbst muß bei
der Betrachtung der Welt aktiv werden und schöpferisch an der Entwicklung des Bildes mitwirken. Er muß in der
Lage sein, dieses Bild auszuwechseln, um wechselnden Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Eine Umgebung, die bis
ins letzte präzise und endgültig eingeteilt ist, kann für neue Tätigkeitsvorbilder ein Hindernis darstellen.
Eine Landschaft, in der jeder Stein eine Geschichte erzählt, macht die Erfindung neuer Geschichten schwierig.“
011993
Kevin Lynch, Das Bild
der Stadt
Auch in der immateriellen Architektur soll es Orte geben, an denen man Erfahrungen macht, sich überraschen lassen kann. So kann man auf dem Weg zum Ziel einen Umweg einlegen, der informiert, inspiriert und herausfordert. Dennoch möchte man im Bilde sein, wo man Dinge findet und sich auf Erfahrungen und alte Pfade verlassen können, gelassen navigieren.
Wir erwarten eine zeitgemäße Gestaltung sowie Aufbereitung und doch dürfen Beständigkeit und
Nachvollziehbarkeit auch im Web nicht vernachlässigt werden. In „Touch Me! Das Geheimnis der Oberfläche“
beschreibt Eichinger, dass man durch Arbeit an der Benutzeroberfläche Nachvollziehbarkeit entwickelt.
„Nachvollziehbar gestaltete Oberflächen ermöglichen es dem Menschen, Teil des Raumes zu werden und sich von
ihm verstanden zu fühlen. Ein solcher Raum muss seinem Benutzer alles anbieten, damit er als Individuum
entspannt in ihm bestehen kann. Gleichzeitig muss er ihn auch immer wieder herausfordern und seine
Auseinandersetzung mit ihm fördern. Auf diese Weise können wir als Architekten den Bewohner wieder in
Beziehung zum Ganzen setzten und eine Verständlichkeit für die grosse Form entwickeln und vermitteln.“ 022011
Gregor Eichinger, Eberhard
Tröger: Touch Me! Das Geheimnis der Oberfläche
Eine „Beziehung zum Ganzen“ entsteht sowohl durch Perspektiven als auch durch den Überblick auf das Geschehen. Die Möglichkeit der Navigation ist dafür essentiell.
„Navigieren (vom lateinischen navigare=schiffen, steuern, segeln; subst. Schifffahrt) bezeichnet die Aufgabe
und auch die Handlung, ein Fahrzeug (gebräuchlicherweise ein Schiff oder Flugzeug) auf einem (vor)bestimmten
Weg von einem Ausgangsort zu einem Ziel zu steuern. Die Navigation ist stets zielgerichtet. [...] "Navigation"
heißt dann auch die Lehre von der exakten und methodisch kontrollierten Technik der Standort- und
Routenbestimmung.“ 031999
Jo
Reichertz in Manfred Faßler: Alle möglichen Welten
Beim Besuch einer Website möchten wir verstehen, in welchem Zusammenhang Anfang und Ende unseres Besuchs stehen, was die erste Information mit der folgenden verbindet. Wie beim Besuch eines Supermarktes möchten wir den Weg, die Verknüpfungen – wie zum Beispiel die Ordnung der Produkte in den Regalen – den Standort der Kasse, nachvollziehen. Für unerwartete Erfahrungen, wie der Blick auf neue Produkte, sind wir offen. Die Navigation muss also nicht komplett selbstbestimmt ablaufen, doch nachvollziehbar sollte sie für den User sein.
Eine mentale Karte begleitet die Besucher*innen materieller und immaterieller Architektur. Auch wenn diese Abbildung unsere Umwelt nicht exakt veranschaulichen kann, gibt sie Sicherheit und Orientierung und schafft ein grobes Netz, das den Raum in der Vorstellung zusammenhält.
In der Navigation durch Wege und Informationen, durch die Interaktion mit Objekten ist also das „Gewohnte“, die Intuition und die Erinnerung von Bedeutung. Gibson verwendete den Begriff der „affordance“, der den Aufforderungs- und Angebotscharakter eines Objektes beschreibt. Das Konzept Gibsons besagt, dass Objekte den Nutzer*innen Angebote machen, der Nutzen demzufolge durch die Beschaffenheit eines Objekts kommuniziert wird.
Don Norman überträgt die Theorie Gibsons auf digitale Medien. Die visuelle Gestaltung des Objekts soll im User-Interface-Design etwas über den Nutzen und die Auswirkungen der Nutzung aussagen. Für Benutzerfreundlichkeit soll eine Erklärung des Objektes nicht notwendig sein. Man beginnt, Objekte der Realität anzupassen, Buttons werden mit Schlagschatten versehen, auf scheinbar eingelassenen Flächen angeordnet. Assoziationen, die Erinnerung an Gewohntes – wie die an Knöpfe eines Radios – sollen Funktionen übermitteln.
Den Skeuomorphismus, also die Nachahmung von Materialen von Objekten der materiellen Architektur, nun hinter uns gelassen, geht es doch mehr um Logik, Kontinuität und Stringenz. Ein in sich schlüssiges Konzept einer Website wird die richtige, vielmehr geeignete Ablesbarkeit möglich machen, und den Nutzer*innen die „Affordance“ der Elemente klar vermitteln.
01 Kevin Lynch:
Das Bild der Stadt (1993), S.12 ff.
02 Gregor Eichinger, Eberhard Tröger:
Touch Me! Das Geheimnis der Oberfläche (2011), S.23
03 Jo Reichertz in Manfred Faßler:
Alle möglichen Welten (1999), S.217